Die historische Aufführungspraxis

Die historisch informierte Aufführungspraxis beeinflusst das Hörverständnis und entscheidet bei Spieler und Hörer neben Aspekten wie beispielsweise der Kompositionsstruktur oder dem Gefühl über die Bewertung der gespielten Interpretation eines Stücks. Sie ist quasi eine Konvention, eine musikalische Norm oder Richtlinie (als wichtigen Vertreter lässt sich N. Harnoncourt erwähnen). Über den Stand der Forschung wurden und werden hierzu Informationen verdichtet und zu einer Richtlinie formuliert, wie ein Werk einer bestimmten Epoche im Allgemeinen gespielt werden sollte (z.B. Artikulation in der Barockmusik, strenges Legato bei Werken der Romantik). Insbesondere im 20. Jahrhundert wurde intensiv geforscht durch die Analyse alter Quellen (beispielsweise Welte-Mignon, Aufnahmen und Walzen) und mit historischen Instrumenten musiziert und experimentiert. Ziel war ein möglichst authentischer Klang eines historischen Werkes.

Besonders wichtig ist die historische Aufführungspraxis, weil sie eine mögliche Beliebigkeit in der Darstellung unterbindet, indem sie eine innere Uhr einstellt, ein Gefühl für richtig und falsch noch ganz unabhängig von den reinen Notenwerten. Sie dringt automatisch ins Klangbewusstsein ein durch häufiges Hören verschiedener Arten von Musik und durch das Hinhören in die Besonderheiten der musikalischen Klänge der einzelnen Stile. Verstärkt werden dabei ihre Aussagen durch musikalischen Unterricht und Weiterbildungsmaßnahmen oder die Lektüre geeigneter Literatur (oder auch Webinhalten wie auf dieser Website).

Antwort und Frage zugleich

Diese Entwicklung können Sie auch mit der Zeit an sich selbst beobachten: So ist das Spielen oder Hören eines Stücks aus der Zeit, als man noch in den eigenen „musikalischen Kinderschuhen“ steckte, ein gutes Beispiel. Vertraute Klänge und vertraute Noten werden auf einmal beim abermaligen Herauskramen ganz anders erlebt. Es tauchen andere Muster auf, die das Ohr oder der Geist vorher nicht oder anders erkannt oder interpretiert hat. Dies führt zu einem Hinterfragen der ursprünglichen Version und dazu, dass gegebenenfalls ein neues Klangbild des Stückes die alte Klangerinnerung erweitert oder gar ersetzt.

Die historische Aufführungspraxis wirft somit mit dem Setzen eines gewissen musikalischen Rahmens auch neue Fragen auf wegen der großen Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten innerhalb ihrer „Norm“: Kann es überhaupt eine hundertprozentig authentische Wiedergabe eines historischen Werkes heute geben? Kann ohne den Hintergrund der damaligen Zeit und als Mensch mit ganz anderen Erfahrungen, anderer Bildung und anderen Gefühlen die Musik genauso wahrgenommen werden? Diese Fragen sind sicherlich eher rhetorischer Natur und doch einen Gedanken wert. So können wir uns heute vor allem noch fragen, an welchen Stellen es gerechtfertigt ist, von der Norm abzuweichen und wo neue Wege erschlossen werden können.

Seien auch Sie als Hörer oder Ausführender bereit, sich diese Fragen immer wieder aufs Neue zu stellen! Verlassen Sie gelegentlich die Sicherheit von Altbekanntem ohne Furcht, denn Sie können bei allem Pioniergeist jederzeit zurückkehren in gewohnte Interpretationsgebiete! Vielleicht ist die neue Art oder neue Interpretationsidee ja viel logischer, dem Instrument oder dem Charakter des Stücks gegenüber viel angebrachter oder schlichtweg gefühlsmäßig richtiger? Oftmals bleiben gerade wir als Organisten gerne in vertrauten Bahnen im Hinblick auf Registrierung, Artikulation und Tempo oder hören als Zuhörer eigentlich sehr gerne bereits bekannte Werke und vergleichen sie instinktiv mit der eigenen Klangvorstellung. Den eigenen musikalischen Horizont erweitern können wir aber insbesondere, wenn wir die bekannten Pfade um diejenigen neuen Wege erweitern, bei denen wir überzeugt  sind, dass sie uns einem tieferen Verständnis oder einer lebendigeren Interpretation näherbringen, am besten mit Spaß und vor allem einer guten Portion Neugier!

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